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Sie bemühte sich redlich, wieder gesund zu werden, aber es war ein hartes und einsames Vorhaben. Und es dauerte. Und war eigentlich unmöglich. Trotzdem – am Ende des Tunnels erblickte sie ein kleines Licht.
Eine Weile war ihre Schwester Rita zu ihr gezogen. Andie hatte sich einen Milzriss, eine geplatzte Lunge, eine Menge innerer Blutungen und Verbrennungen an Armen und Beinen zugezogen. Aber das waren alles Wunden, die verheilten. Weit schlimmer war der Schmerz, den sie in ihrem Innern mit sich herumtrug und der jedes Mal wieder aufbrach, wenn sie in Jarrods Zimmer blickte, das nach seinen Büchern, seinem Schlafanzug und seinem Kopfkissens roch.
Dann war da noch die Wut, die sie jeden Tag aufs Neue spürte. Wut darüber, dass die Mörder ihres Sohnes nie vor Gericht gestellt wurden. Dass jeder wusste, wer dahinter steckte: Cavello! Und dieses Schwein wurde nicht dafür bestraft. Sie träumte sogar davon, ihn in seiner Zelle aufzusuchen und mit eigenen Händen zu töten.
Schließlich kam der Tag, an dem sie einige von Jarrods Sachen in Kartons packen konnte, ohne zu weinen. Ohne sich zu schämen. Sie hatte den Gerichtsmediziner gebeten, ein Stück von dem Basketballerhemd der Knicks abzuschneiden, das Jarrod an jenem Tag getragen hatte. Sie verwahrte dieses Stück Stoff in ihrer Handtasche.
MARBURY 3Langsam begann sie, mit den einfachsten Dingen Normalität in ihr Leben zurückkehren zu lassen. Mit Korrekturlesen. Einem Kinofilm. Es war, als müsste sie die einzelnen Schritte in ihrem Leben erst wieder lernen. Indem sie sich sagte, dass sie das durfte. Dass es in Ordnung war weiterzuleben.
Mit der Zeit las sie sogar wieder die Zeitung, sah sich die Nachrichten im Fernsehen an. Lachte über einen Witz in der Talkshow. Eines Tages schlug sie sogar die Variety auf. Und wieder ein paar Wochen später rief sie ihren Agenten an.
Dann, fünf Monate nach dem Vorfall, stand Andie vor der Tür eines Castingstudios auf der 57th Street West. Ein Auftritt für eine Cialis-Werbung. Sie brauchte nur wie eine Frau um die vierzig und ein bisschen sexy zu wirken – na ja, mehr oder weniger wie sie selbst. Ihr Agent hatte gemeint: Geh hin und schau einfach, wie’s dir damit geht.
Noch nie in ihrem Leben hatte Andie solche Angst gehabt wie vor diesem Besuch im Studio. Es war wie beim ersten Vorsprechen gewesen. Es war alles noch viel zu frisch. Es war nicht richtig. Es war noch zu früh.
Eine hübsche Blondine trat hinter ihr aus dem
Fahrstuhl und machte Anstalten, ihr die Tür aufzuhalten.
Andie schüttelte den Kopf. Sie wurde von einer Panikattacke
erfasst. Ihr Brustkorb wurde immer enger. Sie brauchte frische
Luft.
Sie wartete nicht, bis der Fahrstuhl wieder zurückkam, sondern
eilte die Treppe zu Fuß nach unten auf die 57th Street. Sie fühlte
sich ganz wacklig auf den Beinen, als sie dankbar einen tiefen
Atemzug nahm.
Das wird nicht wieder vorbeigehen, Andie. Es wird dich immer
verfolgen. Aber andere Überlebende kriegen das auch auf die Reihe.
Du musst das schaffen! Ein paar Passanten warfen ihr Blicke zu. Sie
kam sich wie eine Wahnsinnige vor – und sah wahrscheinlich auch so
aus.
Sie lehnte sich an die kalte Mauer des Studios, holte noch einmal
tief Luft und griff in ihre Handtasche, nach dem kleinen Stück
Stoff von Jarrods Hemd. Du wirst immer bei mir
sein.
Andie ging wieder hinein und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf in den
zweiten Stock. Vor dem Studio blieb sie noch einmal stehen. Ihre
Mappe umklammernd, atmete sie tief durch. Das war hart. Das war
verdammt hart.
Als sie schließlich eintrat, kam eine Frau heraus. Die Enttäuschung
auf deren Gesicht war ihr selbst nur allzu vertraut. Doch
entschlossen ging Andie weiter bis zum Empfang.
»Andie DeGrasse. Ich bin zum Vorsprechen hier.«
Im Treppenhaus auf der anderen Seite in der 183rd Street biss ich
mir auf die Unterlippe, als ich sie nach Hause kommen sah. Ich
glaube nicht, dass sie mich jemals hier bemerkt hatte, und so
wollte ich es weiterhin halten. Die Alternative war so verrückt,
dass ich darüber lieber nicht nachdenken wollte.
Andie DeGrasse sah gut aus. Sie war schick gekleidet und
umklammerte eine große, schwarze Mappe. Rein äußerlich gesehen,
schien sie wiederhergestellt zu sein. Aber ich glaubte zu wissen,
was in ihrem Innern vorging.
Hin und wieder kam ich hier vorbei, wusste aber eigentlich gar
nicht, warum.
Vielleicht gab es mir nur ein gutes Gefühl, weil jemand die Sache
überlebt hatte. Ein paarmal war ich sogar hinaufgegangen und hatte
an ihre Tür geklopft. Ich sagte Hallo, brachte was mit –
Neuigkeiten über die Ermittlungen. Im Grunde genommen stand ich nur
herum, als wäre es ein offizieller Besuch, um etwas mitzuteilen,
was ich nicht in Worte fassen konnte. Es fühlte sich gut an, mit
jemandem in Kontakt zu sein. Seit dem Prozess ging ich nicht mehr
viel auf Leute zu.
Vielleicht machte ich mir wieder selbst etwas vor. Vielleicht ging
es auch nur um Andie DeGrasse. Wie sie ihr Leben nach dem, was
passiert war, wieder auf die Reihe bekam. Darum beneidete ich sie.
Dass sie mir nie eine Schuld gab, obwohl sie jedes Recht dazu hatte
– dass sie mich nie vorwurfsvoll anblickte.
Vielleicht war es einfach das Wissen, dass wir etwas gemeinsam
hatten – für uns beide würde das Leben nie wieder so sein wie
vorher. Davon jedenfalls ging ich aus.
So beobachtete ich sie also, wie sie die Treppe zur ihrer Haustür
hinaufging und aufschloss. Sie sah im Briefkasten nach und schob
ein paar Umschläge und Zeitschriften unter ihren Arm, dann
verschwand sie aus meinem Blickfeld. Kurz darauf gingen die Lichter
in ihrer Wohnung an. Was mache ich hier? Ihr hinterher spionieren?
Nein, ich wusste, dass es nicht so war.
Schließlich überquerte ich die Straße. Als ein anderer Bewohner
herauskam, tat ich so, als suchte ich nach dem Schlüssel, und
rannte zur Tür, bevor sie ins Schloss fiel.
Ihre Wohnung war die Nummer 2B im ersten Stock mit Blick auf die
Straße. Ich ging die Treppe hinauf. Ich erinnerte mich an den
Abend, als wir die Geschworenen ins Motel gebracht hatten. Einige
Sekunden blieb ich vor der Tür stehen. Was würde ich sagen? Ich
hatte schon geklopft, als mich schlagartig das Gefühl überfiel,
vollkommen durchgedreht zu sein.
Rasch eilte ich zur Treppe zurück.
Aber es war zu spät – die Tür wurde geöffnet. Und Andie blickte mir
entgegen.
Dort stand sie – barfuß, in einem taubenblauen Pullover und in
Jeans, in der Hand einen schwarzen Müllbeutel. Sie musste zweimal
hinschauen, bis sie mich erkannte.
Ich versuchte, den Überraschten zu spielen – der ich tatsächlich
war. »Ich wollte was abgeben«, und hielt ihr das Buch hin, das ich
mitgebracht hatte. »Ich habe es gerade gelesen und wollte es Ihnen
schenken. Also, ich meine, ich schenke es Ihnen.«
Die vier Versprechen. Sie zog es aus dem
Umschlag. »›Nimm nichts persönlich‹, ›Sei untadelig in deinen
Worten‹. Meine Schwester hat es mir schon gegeben. Gute Wahl, Agent
Pellisante.«
»Ich bin entwicklungsfähig. Und ich bin Nick.« Ich zuckte mit den
Schultern.
»Was sind Sie?«, fragte sie. »Entwicklungsfähig oder
Nick?«
Ich lächelte. »Und, wie geht’s?«
»Ich war heute zum Vorsprechen. Eine Cialis-Werbung. Sie wissen
schon – für die Stunde der Wahrheit.«
»Und wie ist’s gelaufen?«
Sie lächelte. »Weiß nicht genau. Ich musste nur wie eine
Vierzigjährige und sexy aussehen. Passt ja ganz gut zu mir, oder?
Aber ich habe den Job gekriegt. Es war das erste Mal seitdem … muss
schließlich die Rechnungen bezahlen.«
Ich warf ihr einen wissenden Blick zu. Manchmal wollte ich einfach
nur meine Arme ausstrecken und sie festhalten in der Hoffnung, dass
sie ihren Kopf eine Weile an meine Brust legen würde. Ich wollte
nur zeigen, dass ich mich um sie kümmerte.
»Ich weiß nicht, für eine Vierzigjährige sehen Sie toll aus.
Ehrlich.«
»Eben wie eine Vierzigjährige.« Sie hob eine Augenbraue und
lächelte mich streng an. »Wenn Sie in acht Jahren wiederkommen,
nehme ich Ihnen Ihr Kompliment gerne ab. In der Zwischenzeit …« Sie
lehnte sich gegen den Türrahmen. »Und wie läuft’s mit dem
Unterricht?«
Vor ein paar Monaten hatte ich ihr einen Brief geschrieben, dass
ich das FBI verlassen und wieder angefangen hatte zu unterrichten.
Mit den Händen in den Taschen zuckte ich nur mit den Schultern.
»Dieselben Höhepunkte wie bei meinem alten Job erlebe ich da nicht.
Aber bisher hat noch niemand auf mich geschossen.«
Wieder lächelte sie. »Ich stelle Sie jetzt vor die Wahl, Nick:
Entweder Sie nehmen den Müll mit nach unten, wenn Sie gehen, oder
Sie kommen rein, wenn Sie möchten.«
»Würde ich gerne«, sagte ich.
»Was würden Sie gerne?«
Ich blieb stehen, wo ich war. »Sie wissen ja, die Verhandlung wird
wieder aufgenommen. Nächste Woche findet die Auswahl der
Geschworenen statt.«
»Ich habe es in der Zeitung gelesen«, sagte Andie.
»Ich trete immer noch als Zeuge auf. Der Fall ist gut. Diesmal wird
man ihn drankriegen.«
Sie blickte mich mit ihren braunen Augen durchdringend an und schob
die Lippen ein Stück nach vorne. »Um mir das zu sagen, sind Sie
vorbeigekommen?«
»Nein.« Welche Versprechen konnte ich machen, die ich nicht schon
gebrochen hatte? Wir hatten die Männer, die ihren Sohn getötet
hatten, nicht gefunden. Wir hatten nichts in der Hand, um Cavello
dafür verantwortlich zu machen. »Ich dachte, Sie möchten vielleicht
mit mir zur Verhandlung gehen.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob
ich diesem Mann schon so nahe sein kann.«
»Ich verstehe.« Ich nahm ihr den Müllbeutel aus der Hand. Das war
vermutlich eine Entscheidung. Sie lächelte, als könnte sie direkt
in mich hineinschauen.
»Immer noch im Dienst der Öffentlichkeit, Nick?«
Ich blickte sie entschuldigend an. »Entwicklungsfähig.«
Sie lächelte.
»Hey, Pellisante«, rief sie mir hinterher, als ich schon die halbe
Treppe nach unten gegangen war. »Das nächste Mal sollten Sie
wirklich reinkommen.«
Am folgenden Morgen saß ich an meinem Schreibtisch. In meinem
Arbeitszimmer. Zu Hause.
Ich tat, was ich an den unterrichtsfreien Tagen immer tat. Was ich
seit fünf Monaten an jedem freien Tag tat: Ich prüfte alle
Informationen, die ich über den Fall finden konnte. Jedes Dokument.
Jedes Fitzelchen an Beweis.
Ich suchte nach einer Möglichkeit, die Busexplosion mit Dominic
Cavello in Verbindung zu bringen.
Wenn jemand mein Arbeitszimmer sehen würde, meinen chaotischen
Schreibtisch, würde er denken, er hätte die Höhle eines Besessenen,
eines krankhaften Spinners betreten. Gütiger Himmel, überall hingen
Fotos. Von der Explosionsstelle. Vom Bus der Geschworenen. Dicke
Ordner mit FBI-Berichten über die Sprengvorrichtung. Befragungen
von Passanten, die eventuell gesehen hatten, wie die beiden Männer
in Arbeitskleidung fortgerannt waren.
Mehr als einmal hatte ich gedacht, ich hätte den Durchbruch
geschafft. Zum Beispiel, als die gestohlenen Nummernschilder aus
New Jersey zu einem Pferdetrainer in Freehold führten, der
Verbindungen zum Lucchese-Klan hatte. Aber das erwies sich als
reiner Zufall. Alle Wege endeten in einer Sackgasse, nichts ergab
eine Verbindung zu Dominic Cavello oder seinen Leuten.
Während ich meinen Kaffee trank und meine Gedanken immer wieder zu
Andie DeGrasse abschweiften, klingelte das Telefon. Es war Ray
Hughes, der Agent, der meinen Platz in der C-10 eingenommen
hatte.
»Nick« – er klang ganz glücklich, dass er mich erwischt hatte –,
»hast du etwa zufällig frei?«
Manchmal gingen wir zusammen zum Mittagessen, wobei Ray mich in der
Regel anzapfte. Oder ich ihn. An diesem Tag wollte er
wahrscheinlich nur meine Zeugenaussage für den bevorstehenden
Prozess durchgehen. »Es wäre mir zwar nicht recht, wenn ich meine
Lieblings-Serie verpassen würde, aber ich könnte mich trotzdem
aufraffen und zu dir kommen.«
»Nicht zu mir. Ein Jet der Regierung wartet auf uns. In
Teterboro.«
Wenn Ray mein Interesse wecken wollte, hatte er es geschafft. Aber
auch das Angebot eines miesen Sandwiches an seinem Schreibtisch im
Javits-Gebäude hätte gereicht.
»Ein Flugzeug, das uns wohin bringt, Ray?«
Der zuständige Leiter der Abteilung Organisiertes Verbrechen machte
eine Pause, bevor er antwortete: »Marion.«
Ruckartig stand ich auf und verschüttete meinen Kaffee über meine
Aufzeichnungen.
Marion war das Bundesgefängnis, in dem Cavello saß. Etwa vier
Stunden später landete die Lockheed der Regierung auf dem Flughafen
in Carbondale in Illinois. Ein Wagen wartete auf uns, der uns zum
Bundesgefängnis von Marion fuhr. Marion war eine riesige,
deprimierend aussehende Festung mitten im Sumpfgebiet des südlichen
Illinois. Es war auch eins der sichersten Bundesgefängnisse der
Vereinigten Staaten. Obwohl Cavello noch nicht verurteilt war,
wollte die Regierung angesichts der Vorkommnisse in New York auf
Nummer sicher gehen.
Der Aufseher Richard Bennifer wartete auf uns. Er begleitete uns in
die Spezialüberwachungsabteilung, wo Cavello untergebracht war. Der
einzige Besucherraum war verglast und wurde durch eine ständig
laufende Kamera überwacht. Zusätzlich befand sich eine Wache mit
einer Elektroschockwaffe im Raum. Alle Gefangenen saßen
lebenslänglich hier. Ich freute mich, dass Cavello den Rest seines
Lebens an einem solchen Ort verbringen würde.
Ray Hughes und Joel Goldenberger beobachteten uns durch die
einseitig verspiegelte Scheibe von außen.
Cavello saß bereits im Besucherraum, als ich eintrat. Er trug einen
orangefarbenen Overall, die Füße waren aneinander gekettet. Sein
Gesicht war abgezehrter und magerer als beim letzten Mal, als ich
ihn gesehen hatte, und sein Kinn war mit einem dünnen, grauen
Bartschatten überzogen.
Ihm war gesagt worden, dass sich die Staatsanwaltschaft ausgiebig
mit ihm unterhalten wollte. Als er allerdings mich sah, musste er
zweimal hinschauen, lächelte aber schließlich wehmütig, als wäre er
gerade einem alten Freund begegnet.
»Nicky!« Er kippte seinen Stuhl nach hinten. »Sind Ferien oder so
was? Wer kümmert sich um die Studenten?«
Ich setzte mich hinter das Sicherheitsglas, ohne die Miene zu
verziehen. »Hi, Dom. Wie geht’s dem Kiefer?«
»Tut immer noch weh.« Er lachte. »Muss immer noch jedes Mal an dich
denken, wenn ich mir die Zähne putze.«
Dann drehte er sich zu der Wache hinter ihm. »Jetzt schau dir
diesen Typen an. Das letzte Mal, als er mich im Gefängnis besuchen
kam, musste ich monatelang meine Nahrung durch einen Strohhalm
schlürfen.« Er lachte keuchend. »Das ist der Kerl, der hier drin
sein sollte, nicht ich. Egal, du siehst gut aus, Nicky. Spielst du
Golf? Dass du in den Ruhestand gegangen bist, scheint dir gut zu
bekommen.«
»Ich durfte noch einmal meinen Dienst antreten, Dom, für einen
Tag.« Ich warf ihm ein müdes Lächeln zu. »Um Neuigkeiten zu
überbringen.«
»Oh, Neuigkeiten? Gut, ich bekomme hier nicht viele Neuigkeiten.
Gott, Nick, deine Karriere ist wohl steil abwärts gegangen. Jetzt
bist du ein Botenjunge. Egal, ich freue mich, dass du hier bist.
Ich habe gerne Besuch. Es ist nur so, dass du ein bisschen
kränklich wirkst. Muss an dem Jungen liegen, hm? Schläfst du
vielleicht nicht gut?«
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Mir war klar, dass er wieder
eine Reaktion provozieren wollte, aber diesmal ließ ich ihn einfach
machen. »Ich werde hervorragend schlafen, Dom.«
»Und wie geht’s diesem Mädel? Du weißt schon, der Hübschen, die mit
im Bus saß. Als ich gehört habe, dass sie durchgekommen ist, wollte
ich ein bisschen Geld in einen Fonds oder so was einzahlen.« Er
zuckte mit den Schultern. »Aber mein Anwalt meinte, sie würden es
zurückschicken, wenn rauskommt, dass es von mir stammt. Stell dir
vor, jetzt wollte ich einmal was Gutes tun. Tut ganz schön weh, hm?
Also, du Botenjunge, ich rede hier die ganze Zeit – was hast du
denn für Neuigkeiten? Ich bin ganz Ohr.«
»Wir dachten, es würde dich interessieren. Die Staatsanwaltschaft
ergänzt die Anklage gegen dich um zwei weitere Punkte.«
»Noch zwei?« Er seufzte theatralisch. »Wer kann da noch den
Überblick behalten?«
»In diesem Fall wirst du das, Dom. Es geht um die Morde an den
Special Agents Manny Oliva und Ed Sinclair.«
Cavello runzelte die Stirn. »Ich muss schwer nachdenken, ob ich die
beiden kenne.«
»Wir haben die Mordwaffe, Dom. Ein paar Muschelsammler haben sie
entdeckt. Monatelang lag sie versteckt im Sand. Die Ballistik hat
es bestätigt: Es ist die Waffe, mit der die beiden Agenten getötet
wurden. Eindeutig. Du bist geliefert, Dom.«
Langsam verblasste Cavellos Grinsen zu einem besorgten Blick. Jetzt
ging es um ein Kapitalverbrechen, was die Mordwaffe belegte.
»Muschelsammler, hm? Stell dir vor. Du siehst aus, als hättest du
im Lotto gewonnen, Pellisante. Und wo ist der Witz an der
Sache?«
»Der Witz ist, dass ich dich nächste Woche im Gericht sehen werde,
du dreckiges Stück Scheiße. Und es gibt noch eine Neuigkeit: Die
Verhandlung wird in Fort Dix in New Jersey stattfinden. Unter
Ausschluss der Öffentlichkeit. Alles ist abgesichert, die
Geschworenen werden geheim ausgewählt und in der Militärbasis
untergebracht. Wir haben dich, Dom. USStaatsanwalt Goldenberger
wartet draußen, um dir die Anklagepunkte vorzulesen.«
Jetzt war ich dran mit Lächeln. Ein Lächeln, auf das ich schon zwei
Jahre gewartet hatte. »Und? Tut ganz schön weh, Dom,
oder?«
Cavello blickte mich nur an und kratzte sich am Kinn. »Eine
Militärbasis, hm? Fort Dix. Ist das nicht dort, wo der ganze
Sprengstoff gelagert wird? Könnte eine hübsche Detonation
geben!«
Richard Nordeschenko trat am John F. Kennedy Airport an den mit
»Besucher« gekennzeichneten Einreiseschalter und schob seinen
Reisepass und sein Visum durch den Schlitz.
»Kollich.« Der schwarze, kräftige Beamte blätterte durch seine
Unterlagen und tippte den Namen ein. »Dürfte ich Sie bitten, einen
Abdruck Ihres Zeigefingers auf dem Feld zu hinterlassen?«
Nordeschenko tat, was von ihm verlangt wurde. Er machte sich keine
Sorgen. Diesmal war er Este. Mit Namen Stephan Kollich.
Pharmaindustrie. Wenn der Beamte durch den Pass blätterte, würde er
feststellen, dass der des Reisens überdrüssige Geschäftsmann
bereits oft in den Vereinigten Staaten gewesen war.
Die vergangenen fünf Monate waren anstrengend für Nordeschenko
gewesen. Pavel war krank geworden. Zuerst hatte man es für eine
Grippe gehalten, dann einen Diabetes Typ eins diagnostiziert. Nach
monatelanger Behandlung hatten sie die Krankheit endlich unter
Kontrolle. Anschließend war Nordeschenkos Bein schlimmer geworden.
Seine alte Wunde aus Tschetschenien – das Schrapnell forderte
letztendlich seinen Tribut. Er musste sogar Spezialschuhe tragen,
und diese langen Reisen brachten ihn um. Er trat von einem Bein
aufs andere.
Und jetzt musste er sich wieder um diesen Job von Cavello kümmern.
Dabei hatte es beim ersten Mal doch so gut geklappt.
»Geschäfte oder Vergnügen, Mr. Kollich?«, fragte der Einreisebeamte
und verglich Nordeschenkos Gesicht gleich zweimal mit dem
Passbild.
Diesmal würde es eine richtige Sauerei werden. Er würde selbst mit anfassen, alle seine Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen. Er hatte schon alles angeleiert, und Reichardt, der Südafrikaner, war bereits in New York.
Perfekte Vorbereitung war Nordeschenkos Markenzeichen. Darauf hatte er seinen Ruf aufgebaut. Und niemals hatte er einen Auftrag angenommen, den er nicht auch ausgeführt hätte.
Der Einreisebeamte griff zu seinem Stempel. »Wie lange werden Sie sich in den Vereinigten Staaten aufhalten, Mr. Kollich?«
»Nur ein paar Tage.« Wenigstens das war nicht gelogen.Der Beamte stempelte den Pass ab, faltete die Dokumente zusammen und schob sie mit einem Nicken durch den Schlitz zurück.
»Willkommen in den Vereinigten Staaten, Mr. Kollich.« »Ich habe Neuigkeiten«, sagte ich zu Andie DeGrasse am Telefon.
Ich wollte ihr von meinem Besuch bei Cavello und den neuen Anklagepunkten erzählen. Ich wollte die Hoffnung am Leben erhalten, dass es, nachdem wir nach all der Zeit etwas zum Tod von Manny und Ed herausgefunden hatten, auch etwas über die Busexplosion geben müsste. Zumindest legte ich mir das so in meinem Kopf zurecht. Die Wahrheit war: In den vergangenen Tagen hatte ich eine Menge über diese Frau nachgedacht. Die Wahrheit war: Ich wollte sie wiedersehen.
»Mögen Sie Paella, Pellisante?«, fragte Andie,
nachdem ich ihr meine Neuigkeiten mitgeteilt hatte.
»Natürlich mag ich Paella«, antwortete ich. An den Wochenenden mit
Ellen hatte ich gerne mal die Ärmel hochgekrempelt und uns was zum
Essen gekocht. »Eigentlich sterbe ich für eine gute
Paella.«
»Was halten Sie dann von morgen? Gegen sieben? Ich würde gerne
haarklein alles über Ihr Treffen mit Cavello erfahren.«
»Morgen passt mir gut«, antwortete ich, verwundert über die
Einladung zum Abendessen.
»Und, Pellisante«, hielt Andie mich noch auf, »bereiten Sie sich
darauf vor, zu sterben und in den Himmel hinaufzufahren. Meine
Paella ist saugut.«
Als ich auflegte, wollte mein Grinsen nicht mehr aus meinem Gesicht
verschwinden. Das erste Grinsen seit langer Zeit. Am Abend konnte
ich nicht schlafen. Zum Teil wegen Andie, zum Teil wegen der
Freude, Cavello draußen in Marion gesehen zu haben.
Jedenfalls war ich sicher, dass man ihn diesmal wegen der Morde an
meinen beiden Freunden drankriegen würde. Dieser Tag hatte alles
verändert. Auf dem Rückflug von Marion hatte ich Mannys und Eds
Ehefrauen angerufen und erzählt, dass das Schwein endlich seinen
Prozess bekommen würde.
Ich war völlig aufgedreht und hellwach. Zum ersten Mal seit
Monaten. Ich fühlte mich frei von der Schuld und der Schmach, die
mich gequält hatten, seit die Geschworenen in diesen Bus gestiegen
waren. Irgendwo musste es auch eine Verbindung zwischen Cavello und
der Explosion geben. Ich musste nur ein bisschen über meinen
Tellerrand hinausschauen.
Und plötzlich traf es mich wie ein Schlag. Als würde der Wecker
losgehen, nachdem ich bis zwei Uhr nachts nur Wiederholungen im
Fernsehen geschaut hatte. Ich sprang aus dem Bett und hechtete in
mein Arbeitszimmer, wühlte durch einen der Stapel mit
FBI-Dokumenten auf dem Schreibtisch.
Du suchst an der falschen Stelle, Nick.
Die improvisierte explosive Vorrichtung. Die Bombe. Das war der
Schlüssel.
Ich riss den forensischen FBI-Bericht über den Sprengstoff heraus.
Diesen blöden Wisch kannte ich ohnehin schon auswendig. Der
Transporter war mit mehr als fünfzehn Kilo C-4 beladen gewesen.
Zehnmal mehr, als für den Auftrag nötig gewesen wären. Um so viel
Plastiksprengstoff in die Finger zu bekommen, reichte es nicht,
einfach in einen Baumarkt zu gehen. Du musst in Richtung
Terrorismus denken, dachte ich, nicht nur an
Kriminalität.
Meine G-10-Kollegen waren alle Abtrünnigen und Informanten auf der
Liste durchgegangen. Dabei konnten sie jedoch keine Verbindung zu
Leuten ausfindig machen, die Cavello normalerweise für einen
solchen Auftrag engagiert hätte. Dieser war viel komplizierter als
alles andere, was er zuvor verbrochen hatte. Diese Technik war als
Erstes von den Tschetschenen verwendet worden.
Warum also nicht die russische Mafia?
Irgendwo in diesem Stapel steckten Unterlagen von meinen Kontakten
beim Heimatschutz über Verbrecher, die zum Zeitpunkt der
Bombenlegung vermutlich im Land gewesen waren.
Also fing ich wieder von vorne an. Blätterte durch die Seiten mit
leeren Gesichtern und Namen. Andie hatte ausgesagt, ein Mann mit
blonden, langen Haaren unter der Mütze sei von dem Transporter
weggerannt. Dann konnte es doch sein, dass der Anschlag von der
russischen Mafia verübt worden war. Warum nicht?
Sergei Ogilov war immer noch der Boss der Bosse in Brighton Beach.
Einen Golfkollegen konnte ich ihn nicht gerade nennen – ich hatte
einige seiner Männer eingebuchtet oder ausweisen lassen. Aber
vielleicht würde er mit mir reden.
Eine vage Vermutung, aber ein Versuch war es wert.
Schließlich war auch Dominic Cavellos Waffe wieder an Land gespült
worden.
Monica Ann Romano hatte gerade den besten Sex ihres Lebens. Nicht,
dass die Liste ihrer Liebhaber sehr lang wäre. Mit Sicherheit
nicht.
Der Mann, den sie bei einem Feierabendumtrunk mit ihren Freundinnen
kennen gelernt hatte, nahm sie von hinten. Er war sehr gut,
jedenfalls soweit sie beurteilen konnte. Nicht wie die langweiligen
Buchhalter und Rechtsreferendare, mit denen sie sich sonst traf und
die nur ein paar Minuten durchhielten und genauso nervös und
unerfahren waren wie sie selbst.
»Wie ist das für dich?«, fragte er. »Ist das gut? Fühlt sich das
gut an?«
»Oh, ja«, keuchte Monica. Musste sie überhaupt noch antworten? Sie
war kurz davor zu kommen. Zum dritten Mal.
Schon seit viel zu langer Zeit fuhr Monica jeden Abend direkt von
der Arbeit nach Hause, bereitete ihrer kranken Mutter das
Abendessen und verkroch sich in ihr Zimmer, um fernzusehen. Sie war
achtunddreißig Jahre alt. Sie wusste, dass sie langsam dick wurde
und niemand mehr ein Auge auf sie warf. Bis zu diesem Glückstreffer
hatte sie die Idee eigentlich aufgegeben, noch jemanden zu
finden.
Und dann – Karl.
Sie konnte es immer noch kaum glauben, dass jemand, der so gut
aussah und so weit herumgekommen war, es auf sie abgesehen hatte.
Dass dieser große, blonde Europäer mit dem erotischen Akzent
ausgerechnet sie aus der Gruppe attraktiver Anwältinnen und
Rechtsanwaltsgehilfinnen ausgewählt hatte. Er sagte, er sei
Holländer, aber ihr war egal, woher er kam. Im Moment zählte nur,
wo er war – etwa zwanzig Zentimeter in ihr.
Schließlich rollte Karl heftig keuchend auf den Rücken. Sein Körper
glänzte vor Schweiß. Er zog sie an der Hand nahe zu sich heran und
strich ihr Haar aus ihrem Gesicht. »Und, wie war’s? Ich hoffe
gut.«
»Perfekt.« Monica seufzte. »Ich würde ja vorschlagen, dass du ein
paar Freundinnen im Büro deine Dienste anbietest, aber ich möchte
dich mit niemandem teilen.«
»Du willst mich nicht teilen?« Er grinste. »Du selbstsüchtige,
kleine Sirene. Weißt du, was ich dazu sage?«
»Was?« Monica lächelte. »Dass du mich auch mit niemandem teilen
willst?«
»Das hier sage ich.«
Plötzlich presste er seinen Daumen tief in ihre Kehle. Unter dem
Schock und dem unerträglichen Schmerz verkrampfte sich ihr ganzer
Körper.
Karl zog sie vom Bett, während ihre Augen immer weiter
hervorquollen. Halt, hör auf, du tust mir weh, wollte sie sagen,
brachte aber nur seltsame Laute heraus.
Sie versuchte, sich von ihm zu befreien, doch sein Griff war
unnachgiebig. Warum tust du das?
»Weißt du, was ich dir sage, Monica?« Er schob sein langes, blondes
Haar zurück. »Ich freue mich, dass es dir gefallen hat, Monica. Was
unseren Spaß und unsere Spielchen angeht. Aber jetzt liegt es an
dir, etwas für mich zu tun. Etwas Ernsthafteres. Etwas …
Erfreulicheres.«
»Du arbeitest für das Bundesgericht?«
Er presste immer noch seine Finger fest in ihre Kehle, so dass sie
kaum Luft bekam.
»Ja«, brachte sie schließlich heraus.
»Gute Antwort.« Karl nickte und lockerte seinen Griff ein wenig.
»Du bist doch schon eine ganze Weile dort, oder? Ich wette, du
kennst dort jeden. All die anderen fetten Kühe? Das gesamte
Sicherheitspersonal?« Als seine Finger wieder fester zudrückten,
riss Monica die Augen weit auf. Tränen liefen an ihren Wangen
hinab. »Du kennst sie doch, Monica?«
Ihre Lungen drohten zu platzen, doch sie nickte. Ja, sie kannte
sie. Einer von ihnen, Pablo, foppte sie immer, weil sie auf Mike
Piazza und die Mets stand. Genauso wie er.
»Braves Mädchen.« Karl gestattete ihr, kurz Luft zu holen. »Die
Leute scheinen dir zu vertrauen, oder nicht, Monica? Du fehlst nie.
Du kümmerst dich um deine Mutter in deinem kleinen Haus in Queens.
Es muss einsam sein, jeden Abend nach Hause zu kommen, Happahappa
für sie zu machen, ihre Sauerstoffflasche zu überprüfen. Mit dieser
armen Frau zum Arzt zu gehen.«
Was redete er da? Woher wusste er das alles?
Mit seiner freien Hand griff er in die Schublade des Nachttischs
und zog etwas heraus. Was war das?
Ein Foto! Er wedelte damit vor Monicas Augen herum. Monicas Panik
stieg ins Unerträgliche. Es war ihre Mutter! Vor ihrem Haus in
Queens. Monica half ihr mit dem Laufgestell die Stufen hinunter.
Was war hier los?
»Emphysem?« Karl nickte mitfühlend. »Arme Frau, kann kaum mehr
atmen. Was für eine Schande, wenn sie niemanden mehr hat, der sich
um sie kümmert.« Wieder presste er seinen Daumen in ihre
Kehle.
»Was willst du von mir?«, stöhnte Monica, die das Gefühl hatte, ihr
Brustkorb würde gleich platzen.
»Du arbeitest im Gericht.« Seine blauen Augen funkelten. »Ich habe
was, das dort hinein muss. Eine leichte Aufgabe für dich. Wie heißt
es so schön? Ein Kinderspiel.«
Plötzlich war Monica klar, um was es ging. Was für eine Idiotin sie
doch gewesen war zu glauben, er wäre an ihr interessiert. »Ich kann
nicht. Da sind Wachleute.«
»Natürlich sind da Wachleute.« Lächelnd drückte er wieder zu.
»Deswegen musst du das ja tun.«
Andie sah einfach hinreißend aus, als sie die Tür öffnete. Sie trug
einen roten Pullover mit Reißverschluss und verblichene Jeans. Ihr
Haar hielt sie mit einer Spange zusammen, doch ein paar Locken
umspielten ihre Wangen. Ihre Augen strahlten – und schienen zu
sagen: schön, dich zu sehen. Mir ging es nicht anders.
»Riecht wie in meiner Erinnerung«, stellte ich fest, als mich eine
Duftwolke aus Meeresfrüchten mit Tomaten und Safran erreichte. Die
Paella würde mich wirklich in den siebten Himmel
befördern.
»Zumindest erwische ich Sie nicht dabei, wie Sie draußen
herumschnüffeln«, sagte Andie mit einem Lächeln.
»Wie wär’s mit überwachen? Das hört sich ein bisschen besser an«,
erwiderte ich und hielt ihr einen spanischen Rioja hin.
»Sie überwachen mich? Warum?«
»Hm, wahrscheinlich bin ich hier, um genau darüber mit Ihnen zu
reden.«
»Dann mal los.« Andie grinste und ließ die Wimpern
klimpern.
Ich glaube, ich stand einfach nur da und erinnerte mich, wie sie
während der Verhandlung auf der Geschworenenbank ausgesehen hatte.
Oder mit diesem verrückten T-Shirt während der Auswahl der
Geschworenen. Unsere Blicke hatten sich damals ein paar Mal
gekreuzt. Ich dachte, wir hätten es beide gemerkt. Mindestens ein-
oder zweimal hatten wir uns von der Seite her
angeschielt.
»Ich habe die Vorspeise im Backofen. Fühlen Sie sich ganz wie zu
Hause.«
Ich betrat das kleine, hübsch eingerichtete Wohnzimmer, während
Andie in die Küche verschwand. Vor dem gelben Sofa mit
Paisley-Muster stand ein Beistelltisch, darauf lagen Architectural Digest und InStyle. Ein stark mitgenommenes Taschenbuch,
Die Schwester der Königin. Die Jazz-CD,
die sie aufgelegt hatte, kannte ich. War von Coltrane. Ich ging zum
Regal und griff zur Hülle. A Love
Supreme.
»Hübsch«, sagte ich. »Ich habe mal Saxophon gespielt. Ist aber
schon lange her.«
»Echt?«, rief sie aus der Küche. »Damals in den
Fünfzigern?«
Ich setzte mich an den Tresen. »Sehr lustig.«
Sie schob einen Teller mit Käsebällchen und Empanadas herüber.
»Hier, ich habe mich mächtig ins Zeug gelegt.«
Ich piekste ein Bällchen mit einem Zahnstocher auf. Lecker. Nachdem
sie mir ein Glas Pinot Grigio aus einer offenen Flasche
eingeschenkt hatte, setzte sie sich mir gegenüber.
Sie roch frisch nach Lavendel oder Aprikose oder etwas Ähnlichem.
Egal, warum wir hier waren – Abendessen, Techtelmechtel,
Informationsveranstaltung über Cavello –, mir gefiel es schon jetzt
besser, als es sollte.
Sie lächelte. »Äh, na ja, ist schon ein bisschen komisch,
oder?«
»Ich habe mit laufendem Motor vor der Tür geparkt, für den
Notfall.«
»Falls ich verrücktspiele?«
»Falls mir Ihre Paella nicht schmeckt.«
Andie lachte. »Schießen Sie los«, forderte sie mich auf und neigte
ihr Glas in meine Richtung. »Ich denke, es sind gute Neuigkeiten,
oder?«
»Stimmt.« Wir stießen miteinander an. »Diesmal ist Cavello
geliefert.« Plötzlich schien es mir überhaupt nicht angebracht,
über mein Treffen mit Cavello zu reden. Bisher verband uns nur
dieser furchtbare Prozess. In der Pause, die entstand, nahmen wir
noch einen Schluck Wein. Schließlich lächelte Andie und ließ mich
vom Haken.
»Wir müssen nicht darüber reden. Wir können uns über Ihre Studenten
unterhalten. Oder was im Irak passiert. Oder, was Gott eigentlich
verhüten möge, über die Yankees.«
Beim Essen erzählte ich ihr schließlich doch mehr von meiner
Begegnung mit Cavello. Ich glaube, es gab ihr ein gutes Gefühl, zu
wissen, dass das Schwein wenigstens für irgendetwas bezahlen
musste. Und der Paella musste ich zehn Punkte geben. Sie entsprach
genau meinem Geschmack.
Anschließend half ich ihr beim Abräumen und stellte das Geschirr in
die Spüle, bis sie mich aufhielt und sagte, das werde sie später
machen. Schließlich kochte sie Kaffee.
Andie hatte mir den Rücken zugekehrt. Wir redeten über ihre
Schauspielerei, als ich ein Foto auf dem Tresen bemerkte. Sie und
ihr Sohn. Sie hatte ihren Arm um seine Schultern gelegt, beide
lächelten breit. Liebe. Mutter und Sohn, die nicht glücklicher sein
konnten.
Als ich wieder aufblickte, hatte sie sich zu mir gedreht. »Ich will
Sie nicht vor den Kopf stoßen, Nick, aber warum kommen Sie immer
wieder her? Was wollen Sie mir mitteilen?«
Ich wurde verlegen. »Ich weiß nicht.«
»Sie wollen sagen, dass es wehtut? Ich weiß, dass es wehtut.« Ihre
Augen glänzten. »Sie wollen sagen, Sie wünschten, Sie hätten etwas
dagegen tun können?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen möchte, Andie. Aber ich weiß, dass
ich herkommen und Sie sehen wollte.«
Und ich wollte auch einfach meine Arme ausstrecken und sie
festhalten. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Menschen so
sehr in die Arme nehmen wollte wie sie. Vielleicht wollte sie es
auch. Doch sie stand einfach nur da, die Hände auf dem
Tresen.
Schließlich begann sie zu lächeln. »Der Motor läuft noch,
hm?«
Ich nickte. In der letzten Minute war die Temperatur in der Küche
ziemlich angestiegen. »Verstehen Sie das nicht falsch, aber ich
glaube, ich werde auf den Kaffee verzichten.« »Hey.« Andie seufzte.
»Wie Sie meinen.«
Nachdem ich meine Jacke vom Stuhl am Esstisch geholt hatte,
begleitete mich Andie zur Tür. »Es war alles ganz toll«, meinte
ich. »Wie in Ihrer Werbung.« Ich hielt einen Moment ihre
Hand.
»Es ist, weil ich mich in Ihrer Nähe wohl fühle. Deswegen bin ich
hergekommen. Sie bringen mich zum Lachen. Seit Monaten hat das
niemand geschafft.«
»Sie haben ein hübsches Lächeln, Nick, wenn Sie es zulassen. Hat
Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
Ich wandte mich zum Gehen. »Schon lange nicht mehr.«
Sie schloss die Tür hinter mir. Ein Teil in mir wollte sagen:
Scheiß drauf, Nick, und kehr um. Ich wusste, dass sie immer noch an
der Tür stand, spürte sie beinahe auf der anderen Seite.
»Was geschehen ist, ist geschehen, Nick«, hörte ich sie.
»Sie können die Welt nicht verändern, nur weil Sie sie so haben
möchten.«
Ich drehte mich um und legte meine Handfläche an die Tür. »Ich kann
es aber versuchen.«